Glücklich im Hamsterrad

Vor drei Tagen hatte mein Sohn Geburtstag und wir haben telefoniert. Ich habe mich sehr gefreut zu hören, dass es ihm gut geht und er sich als rundum glücklich und zufrieden bezeichnet. So etwas ist derzeit eher selten!

Es hat mich um so mehr gefreut, als ich mir niemals vorstellen könnte, unter ähnlichen Lebensumständen glücklich und zufrieden zu sein: 
Leonard lebt nämlich in Berlin, im Hamsterrad und zwar als Fließbandarbeiter im Schichtbetrieb. Das bedeutet, mal mitten in der Nacht, mal am späten Nachmittag mit der Arbeit zu beginnen, die eine Stunde Bahnfahrt entfernt liegt.

Mit einer Arbeit, die er selbst als stumpfsinnig bezeichnet. Er montiert BMW Motorräder, doch er weiß nicht, an welchem Modell er gerade Kabelstränge befestigt, oder Tanks montiert. Er interessiert sich nicht für Motorräder, er hat auch keinen Führerschein. 

Solide Ausbildung – Leider vergebens

Wie seine Brüder hat auch er das Abitur gemacht, als praktisch veranlagter Mensch jedoch eine Berufsausbildung zum Veranstaltungstechniker begonnen. Sound, Licht, Bühnenbau, Events, Halle im Gewerbepark an der Spree. Sehr hip, sehr Berlin und sehr, sehr viele unbezahlte Überstunden. 

Lehrjahre sind bekanntermaßen keine Herrenjahre und gegen Ende der Lehrzeit wurde die „Pandemie“ ausgerufen, welche ausgerechnet seinen mühsam erlernten Beruf so ziemlich überflüssig gemacht hat. 

Veranstaltungen finden fast nur noch virtuell statt. Die letzten drei Monate seiner „Lehrzeit“ verbrachte mein Sohn damit, FFP2 Masken zu fertigen. Sein Chef hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Leonard wurde natürlich nicht übernommen und andere Stellen in seinem Beruf gab es erst recht nicht. Dumm gelaufen!

Statt zum Arbeitsamt zu gehen, hat er ein Jobangebot im Berliner BMW Motorradwerk angenommen. Akzeptieren, was ist. Keine Lust, auf weitere Leere im Geldbeutel nach drei Jahren Lehre. Ehrlich gesagt, war ich zuerst einmal entsetzt über diese Entscheidung.

Stressfreie Tätigkeit

Doch nun hat er mir erklärt, dass dieser Job durchaus seine Vorteile hat. Ganz im Gegensatz zur Lehrzeit, in der es immer wieder Reibereien mit dem Chef gab, sind die Verhältnisse am Band klar definiert.

Die Tätigkeiten als solche sind wiederum derart einfach und repetitiv, dass sie im Prinzip nur die rein physische Anwesenheit erfordern, der Geist bleibt frei. Mein Sohn sagte, er höre die ganze Zeit Musik und meint, dass die Stunden damit erstaunlich schnell vorüber gehen. 

Natürlich gibt es auch keine betrieblichen Probleme, die ihn nach Feierabend beschäftigen könnten. Chancen zum beruflichen „Aufstieg“ gibt es hier nicht. Dienst nach Vorschrift ist völlig ausreichend, darüber hinaus gehende Anstrengungen sind nicht erforderlich. 

Schicht im Schacht!

Wenn die Schicht vorüber ist, geht es ab nach Hause und niemand verlangt mehr von ihm, Überstunden zu leisten. 

Viele „bessere“ Anstellungen verlangen vom Beschäftigten, dass er sich mit seiner Arbeit, mit seiner Firma identifiziert und sich dementsprechend geradezu aufopfert. Das beginnt mit geradezu selbstverständlichen Überstunden, setzt sich mit Arbeit fort, die am Wochenende mit nach Hause genommen werden muß und gipfelt in der ständigen Erreichbarkeit für Vorgesetzte über Mobiltelefon und Internet. 

Hier dringt die Arbeit tief ins Privatleben ein und vermischt sich so stark damit, dass keine klare Trennung mehr vollzogen werden kann. Betriebliche Probleme werden zu persönlichen Problemen gemacht. 
Erst dieses sorgsam indizierte Gefühl der eigenen Wichtigkeit, der Unersetzlichkeit für den Betrieb, macht viele Angestellte zu Sklaven. Leonard geht nach Hause und ist frei.

Erfüllung im Privatleben finden

Nach Schichtende gehört sein Leben voll und ganz ihm und er kann sich dem widmen, was ihn wirklich interessiert. Zeit mit seiner Freundin und Freunden verbringen, chillen und natürlich seiner großen Leidenschaft nachgehen.

Mein Sohn ist nämlich ein Gamer. Er spielt ein überaus komplexes Reality Game, welches großes kreatives Geschick und strategisches Denken verlangt. Die Spieler sind weltweit vernetzt und treffen sich auch persönlich. Demnächst geht es wieder in eine europäische Hauptstadt. 

Ich kenne mich nicht aus, also möchte ich hier auch gar nicht zu viel darüber berichten. Außer, dass sich Leonard unter seinen Mitspielern eine ziemliche „Fame“ erworben haben muss. Das Game ist ihm sehr, sehr wichtig, es ist Für ihn:

Das, wofür es sich aufzustehen lohnt

Dieser Satz ist eine lockere Übersetzung des japanischen „Ikigai“. Der Begriff umschreibt im weitesten Sinne, was der einzelne unter dem Sinn in seinem Leben versteht.

In einer Gesellschaft, die dem Individuum völlige Unterordnung und Aufopferung abverlangt, ist es geradezu lebenswichtig so einen Halt zu haben. Nicht umsonst haben alle sehr alten Menschen in Japan in Umfragen angegeben, ein „Ikigai“ zu haben. 

Obwohl versucht wurde, das völlige Aufgehen des Angestellten in seinem Betrieb zum „Ikigai“ zu erklären, wandten sich die Menschen doch lieber dem Blumenzüchten, oder Gemeinschaftssportarten zu. Mein Sohn spielt eben sein Spiel.

Seine Erfüllung im Inneren suchen

Als Babyboomer wurde ich darauf konditioniert, mich über Äußerlichkeiten zu definieren. Motorräder, Sportwagen, Markenkleidung und Luxusgegenstände, all das, wofür man viel Geld benötigt.

So wurde „viel Geld verdienen“ zur obersten Priorität in meinem Leben. Das hat relativ schnell und mühelos geklappt, denn mir war von Anfang an klar, dass ich das nur als Unternehmer schaffen würde. Den Umweg über Studium und Karriere hatte ich als Irrweg erkannt und ihn mir erspart.

Erst später habe ich gemerkt, dass mir der jeweils nächste Porsche wesentlich weniger Lustgewinn bringen würde, als sein Vorgänger. Plötzlich waren mir Freunde, Beziehungen und die Beschäftigung mit Philosophie und Spiritualität wichtiger als noch mehr Geld. Dabei ist es geblieben, deswegen sitze ich hier und schreibe.

Lernen von den Millennials

Die Generation meiner Kinder tickt weitgehend anders. Vielleicht auch, weil sie am Beispiel ihrer Eltern sehen konnten, welche Nachteile deren Weg mit sich brachte?

Jedenfalls sind sie mit ihrer Haltung besser gerüstet für den „Großen Reset“, als die Meisten meiner Generation. Die Ansage für die Zukunft lautet nämlich „Nichts zu besitzen und dennoch glücklich zu sein“. 

Das ist ein Glück, das man eben nur in seinem Inneren, nur aus sich selbst heraus finden kann. Ein Glück, das nicht von so vergänglichen Dingen wie Vermögen und Sozialstatus abhängig ist. Ein Glück, das man auch unter eher unglücklichen Umständen empfinden kann. 

Vor 40 Jahren haben mich solche Gedanken noch zur Rebellion veranlaßt. Zum Konsumrausch, ich wollte ALLES besitzen. Heute besitze auch ich nicht einmal mehr ein Auto. Nicht etwa, weil ich mir keines kaufen könnte, sondern weil ich es einfach nicht brauche.

Glücklich, auch im Hamsterrad

In meinem Umfeld dreht sich fast alles darum, dem Hamsterrad angestellter Arbeit in Deutschland zu entkommen. Eine ortsunabhängige Selbstständigkeit aufzubauen, viel Geld zu verdienen, keine Steuern zu bezahlen und einen Großteil des Lebens auf Reisen zu verbringen. 

Ich kann das sehr gut verstehen, denn schließlich lebe ich selbst diesen Lebensstil, gehöre sogar zu den Vorreitern des Trends. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass es eine ganze Menge von Menschen gibt, die sich tagein, tagaus in eben jenem Hamsterrad abstrampeln und dennoch glücklich dabei sind.

Wir sollten nicht annehmen, dass nur unser Weg der einzig heilbringende ist. Wir dürfen nicht auf die Menschen im Hamsterrad herabsehen, nur weil sie sich klaglos in eine Gesellschaft einordnen, die uns nicht gefällt. 

Es kann nicht nur Chefs geben

Wir müssen, ganz im Gegenteil, froh darüber sein, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen eben nicht so denkt wie wir. Wer sollte sonst all jene Tätigkeiten ausführen, die für unseren Instagram-Lifestyle unerläßlich sind?

Meine eigene Freiheit verdanke ich insbesondere meinen Mitarbeiterinnen, die sich darum kümmern, dass die Online-Bestellungen ausgeführt werden. Den Arbeitern, die meine Waren herstellen und den Fahrern, die sie zu meinen Kunden bringen. Alles Menschen im Hamsterrad. 

Erst ihre Arbeit ermöglicht es mir, Chef zu sein. Jener Mensch, der ihnen einen Teil der Lebensrisiken abnimmt und ihnen erklärt, was zu tun ist. Meine Leute sind froh darüber und sagen mir immer wieder, dass sie niemals mit mir tauschen wollten. Und doch können wir nicht ohne einander existieren, Niemand ist wichtiger.

Es ist nichts verkehrt daran, im Hamsterrad zu laufen. So lange man dabei glücklich ist! Daran hat mich mein Sohn mal wieder erinnert. Danke Leo!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert